Ins Schwarze blicken
Vanesa Guerra
...luna
lunera cascabelera
luna
lunaria cascabelaria
luna lunosa cascabelosa ...
Was
zwingt mich eigentlich zu denken, dass dieses Mädchen, das mit
neugierigem, ins Unendliche gerichtetem Blick die von einem silbernen
Teleskop herangeholte Ferne betrachtet, von einem Teleskop, das auf
einem Stativ steht und zum Mond hin geöffnet ist und zum Polarstern
und zu dem tiefschwarzen Zwischenraum, der ein Gestirn vom anderen
trennt; was also zwingt mich, zu denken, zu glauben, dass dieses
Mädchen hier neben seinem Vater, das mit unendlicher Neugierde den
gigantischen nächtlichen Himmel betrachtet, dass ich das bin mit
vier Jahren?
Sie
ist eine andere und sie kennt mich nicht; ich kann mich an sie
erinnern, verschwommen, wie im Halbschlaf, nur gehört sie nicht mehr
zu mir, sie ist mir in meinem Inneren verloren gegangen, sie ist mir
abhanden gekommen.
In
jener Nacht oder in irgendeiner dieser Nächte, die alle wie diese
eine Nacht zu sein schienen, war ich gerade eingeschlafen, als das
Fenster in meinem Zimmer, das zu dem verwilderten, weit vom nächsten
Gebäude entfernten und von alten Bäumen umgebenen Grundstück
hinter unserem Haus hinausging, zu einem dunklen und undurchsichtigen
Grundstück in einem westlichen Randbezirk von Buenos Aires, als
dieses Fenster aufleuchtete. Das offene Fenster in gleißendes Licht
getaucht, die Jalousie heruntergelassen; drückend die Stille im Haus
zu dieser Stunde. Mit einem Mal verschaffte sich die Lichtflut
Zutritt ins Zimmer und zerschnitt den Raum mit ihren Strahlen: ein
geöffneter Fächer. Die Spalten der Jalousie ließen die Fülle an
Monden und Gestirnen kaum bis zu der cremefarbenen Wand
hindurchsickern, an der eine fröhliche Familie von Plüschfiguren
hängt: die Telerins, alle sechs, der Größe nach geordnet, mit
ihren schwarzen Pupillen auf weißem Grund, wahnsinnsweiße Augen. Im
Morgengrauen tanzen die Telerins einen ungewissen Tanz über meinem
lichtverschreckten Kopf unter der bebenden Decke, die mir der
Schrecken bis zu den Ohren hochgezogen hat. Der Hilfeschrei an meine
Eltern fand nicht aus mir heraus; unartikuliert, unterdrückt, wurde
er zum stummen Zeugen eines Leuchtens, das immer intensiver wurde, um
schließlich den ganzen Raum einzunehmen und seine Formen zu
verschlingen. Es nahm dem Raum Wände, Bett, Fenstersims,
Gegenstände, und etwas, das ich nicht näher benennen kann, bewegte
sich langsam auf mich zu, etwas Schwarzes, das immer größer wurde,
das das Licht schluckte, das dunkler wurde, etwas, das weder Augen
hatte, noch Stimme, noch Hände.
Am
nächsten Tag sprachen die Nachbarn vom Lichtblitz: ganz Morón hatte
es gesehen; in den spärlich bebauten Gegenden kann alles Mögliche
passieren; was sich hinter den Baumgruppen gegenüber der Häuser
befindet, weiß man nie: Brachland, Militärgelände, Schützengräben
hinter einer akkuraten Reihe von Pappeln. Das Licht war aber von der
anderen Seite gekommen, mag ich gedacht haben in der Kindersprache,
die eine andere ist als die, die ich heute spreche; dieses „andere“
war eher intuitiv gesagt, es streifte die Dichte des Wortes nur; das
Licht kam aus dem Grundstück hinter meinem Haus, aus dem Grundstück
und vom Himmel, der eigentlich nicht so dunkel sein dürfte, wie er
aussieht, mag ich gedacht haben, während meine Großmutter mit der
Ladenbesitzerin sprach, die uns immer noch Brot verkauft und Betty
heißt und eine Zwergin ist. Sie steigt deshalb jedes Mal auf eine
Fußbank, als würde sie hinken, um den Ladentisch zu erreichen und
unter einem Wortschwall die immer gleichen Nachbarn zu bedienen, die
das Gespräch erwidern, mit kühlen Händen ihre Geldbörsen an sich
pressen, die Augen zusammenkneifen und mir flüchtig über den Kopf
streichen, denn Betty oder Bettys Laden ist der einzige im Viertel,
in diesem Viertel voller Schlamm und Pfützen und Sneaker der Marke
Flecha, weiß und nach neuem Gummi riechend, die hüpfend den
Schlaglöchern ausweichen, bis sie ums Eck sind.
Betty
stellt die seltsamsten Päckchen mit Keksen und Schokoladenringen
zusammen – Ringe wie die vom Saturn –, sie holt sie als Extra aus
einer blauen, quadratischen Dose heraus, die mit einer kleinen,
runden Glasscheibe versehen ist, wie ein Bullauge, wie bei einem
Taucheranzug, durch das ich heimlich ihre kleinen, dicklichen,
verspielten Hände beobachte, wie sie durch die Kekse fahren, und ich
sehe, wie abgebrochene Stücke und beschädigte Ringe von den
unruhigen Fingern beiseitegeschoben werden.
Betty,
seltsames Mädchen: ein wenig zu groß, mit Augen weit oben auf der
öligen Stirn, Augen, die sehr nah an den Ohren sitzen, weit
auseinanderliegend, wie Mamá erklärt; und dann dieses breite und
auf finstere Art kindliche, große Gesicht, der Ladentisch reicht ihr
gerade bis zur Taille und Betty wiegt und wog damals die Keksberge
auf weißlichem Papier ab, rau auf der einen Seite, aber glatt und
glänzend auf der anderen, und wie mit einem Zaubertrick faltet sie
das Papier mit ihrer kleinen, flinken Hand und macht ein Päckchen
daraus, so wie man den Teig einer Empanada umschlägt. An jenem Tag
schob sie das Päckchen behutsam an den Rand des Ladentischs, wo sich
der Zinn so glatt anfühlt, man aber nicht mit dem Mund über ihn
streichen darf. Diesmal streckte ich die Hände aus und bekam das
Päckchen zu fassen; so schnell ich konnte, lief ich nach Hause, als
ich sie da oben sah, riesenhaft, schwankend auf ihrer Fußbank, ich
sah sie, ich sah Betty, wie sie schaute, wie sie den Mund verzog, die
Nase rümpfte, wie ihre Augen sich zu Schlitzen verengten, wie ...
sie mich ansah, aber sie grinste nur und stammelte etwas wie:
Du
hast es doch bestimmt auch gesehen ...
Die
kleinen Päckchen mit Bettys Ringen kannte ich schon, bevor ich meine
erste Empanada aß. Und mit der Zeit wurde mir klar, dass Betty vom
Saturn gekommen war.
Das
Schwarze schaut, es schaut mich an, und ich schaue zurück. Wenn man
zu Tode erschrickt, lässt sich die Zeit nicht mehr messen; ein
haarsträubender Moment, er dauert ewig an, dein Körper manifestiert
sich im Schmerz, den die Verlassenheit angesichts der Bedrohung
auslöst. Die Bedrohung transformiert dich, sie macht dich zum
Gegenstand, macht dich zur Beute.
Betty;
das seltsame Mädchen
Betty
ist eine Zwergin, kein Mädchen.
Betty
ist keine Zwergin.
Betty
ist auch kein Mädchen.
Betty
stieg aus einem Raumschiff, so einem wie das, das damals kam.
Sie
wird zuvor schon aus dem Raumschiff gestiegen sein, bevor ihr hierher
gezogen seid ... ich habe aber immer schon hier gelebt, antwortete
ich. Nein, davor warst du noch nicht auf der Welt, und nicht auf der
Welt zu sein, ist etwas sehr Merkwürdiges, und hier im Viertel
geschahen Dinge, bevor du auf die Welt gekommen bist; deshalb kam das
Raumschiff früher und ließ Betty hier, da war ich bestimmt auch
noch nicht auf der Welt, und jetzt suchen sie sie oder vielleicht
suchen sie auch Kinder, die sie durch Zwergenkinder ersetzen wollen.
Besser, wir machen die Fenster zu.
Bettys
Hände sind so groß wie meine Hände, aber faltig; die Füße kaum
größer, die Nägel gekrümmt, gelblich, undefiniert; immer ertappte
mich ihr Blick, wenn ich ihren großen Zeh betrachtete, wie er aus
der Sandale herausschaute. Der Zeh zeigt auf die Tür, wie ein Zeh,
der vor seinem Fuß davonlaufen will.
Ein
Geiselzeh, wies Carlitos mich hin, das einzig Menschliche an diesem
Körper.
Carlitos
war der Größte von uns. Er roch schlecht und war immer schmutzig,
muffig. Im Grundstück hinter seinem Haus gab es einen Hühnerstall
und Doña Rosa brachte die Hühner um und aß sie; ein breites Messer
hatte sie, mit gekrümmter Klinge. Einmal hob die kleine, dicke Frau
das gekrümmte, gezahnte Messer und bevor sie es in einen Kürbis
schlug, gerade als wir das Fenster schließen wollten grummelte sie:
Hey,
ihr, damit operiert man Kinder mit Halsschmerzen.
Damals
hatte ich jeden Monat einmal eine Halsentzündung und der Arzt riet
zur Operation. Mein Großmutter – sie war Krankenschwester –
bewahrte mich davor, und dank ihres Wissens überzeugte sie alle,
dass eine Operation nicht nötig sei: Kinder bekommen Halsschmerzen,
weil sie Angst haben, sagte sie. Kinder haben immer Angst, wir können
ihnen doch nicht je nach Größe der Angst Körperteile entfernen,
oder? Daraufhin träumte ich von einem schmerzenden Kopf, von dem man
die Mandeln entfernt hatte, die Kehle, die Ohren, die Zähne, den
Bauch ... Meine Großmutter war weise, und Doña Rosa, Carlitos’
Mutter – diese brutale Bestie, achte einfach nicht auf sie –
gefiel ihr überhaupt nicht; nur rief sie großzügig mit den selben
klugen Aussagen, die mit so mancher meiner Ängste aufräumten, neue,
mich zu Tode erschreckende Fantasien hervor; das führt mich zu der
Schlussfolgerung, dass es gar nicht um meine Großmutter ging,
sondern um meine eigene, ergiebige Fähigkeit, Angst zu empfinden.
In einer dieser Nächte, die aus
irgendeinem Grund alle gleich schienen und ewig dazu, schlief ich
zusammen mit der Großmutter im Wohnzimmer, klammerte mich an sie,
dass es ihr fast wehgetan haben muss. Ich hatte die Übertragung
eines Mannes im Fernsehen gesehen, der in einer anderen Welt
umherlief, eines Mannes, der die ersten Schritte auf dem Mond tat.
Sie zogen die Vorhänge im Wohnzimmer auf und zeigten nach oben,
dort, siehst du? Dort oben läuft ein Mann herum, ganz lautlos.
Es
herrschte eine seltsame Glückseligkeit, eine Glückseligkeit, die
ich nicht verstand, ausgelassen waren die Oliven essenden Münder,
ausgelassen wurde zur Ruhe gemahnt, das Fernsehbild eingestellt,
ausgelassen wurde das transparente Antennenkabel ausgerichtet.
Wir
aßen Pizza; Pizza, die es nur zu festlichen Anlässen gab, man holte
sie mit dem Auto von der Hauptstraße oder vielleicht fuhren sie auch
bis nach Haedo, etwas weiter entfernt, etwas dichter bevölkert,
etwas näher an der Kindheit meiner Eltern; wie viele Mitfieberer an
jenem Abend da waren oder wer sie waren, weiß ich nicht mehr, das
Haus war jedenfalls voller Freunde, für mich alles unterschiedliche
Arten von Onkeln und Tanten, dickere Onkel, dünnere Onkel, lustigere
Onkel, langweiligere Onkel; liebevolle Tanten, zerstreute Tanten und
Tanten, die mir Schamgefühle machten, wie jemand, der einem etwas
gibt, der dich nötigt, etwas aufzubewahren, obwohl du gar nicht
weißt, wie oder wo; und ich, ganz gehorsam, aß, trank, hielt
pflichtbewusst an dem Schamgefühl fest, und weil ich nicht wusste,
wohin damit, ging ich ziellos umher, nervte und hielt überall
Ausschau.
Die
Pizza wurde in einer Schachtel gebracht, die mit einem Baumwollfaden
zusammengehalten wurde, so straff gespannt wie Gitarrensaiten; auf
der runden Schachtel aus dickem Styropor fielen mir die wie zufällig
verstreuten kleinen blauen, roten und gelben Pünktchen auf.
Normalerweise zerrieb ich solche Verpackungen in meinen Fingern und
hortete die kleinen Kügelchen, ich stopfte sie in irgendein
Fläschchen und manchmal zerquetschte ich sie mit den Zähnen und
hörte sie quietschen in meinem Mund mit ihrem feinen, tristen, zu
Ende gehenden Stimmchen, dann schluckte ich sie hinunter und sagte
niemandem etwas und wartete darauf, dass irgendetwas Schreckliches
geschehe; dieses Schreckliche hatte aber nie etwas mit Tod zu tun,
das Schreckliche der Kindheit ist eher eine besondere Form der
Verlassenheit.
Die
Pizza war heiß und vielleicht war sie sogar noch besser als damals
das Wasser aus der Leitung.
In
jener Nacht kam die Großmutter nicht nach Hause; jene Nacht gehörte
dem Mond, dem Fernseher und dem Teleskop; die Großmutter kam dann am
nächsten Tag, sie durchquerte die Stadt in sintflutartigem Regen,
einem Regen wie heute, mit Wassermassen, die alles überfluten, einem
Regen, der, lange, bevor er auf einen selbst herabstürzt, den Geruch
nach nasser Erde bringt, der die Erinnerung an den Duft von Wiesen
herbeiträgt und an die tatsächliche Farbe der Bäume. Durch den
namenlosen Mann im Mond und einen Himmel, der Stück für Stück
herunterfiel, hatte sich meine Angst beträchtlich vergrößert und
mich regelrecht überflutet: Meiner Großmutter, der weisen
Krankenschwester, vertraute ich den ersten Anfall von Entsetzen an;
kaum dass ich sie sah, warf ich mich in ihre Arme und begann zu
zittern.
Ahh,
das Schwarz ...
Ich
schlief zusammen mit der Großmutter im Wohnzimmer, klammerte mich an
sie, dass es ihr fast wehtun musste. An den Großmuttertagen wurde
immer ein provisorisches Bett gegenüber dem großen Fernseher
aufgebaut. Im Dunkeln war das in das Zedernholzmöbel eingebaute
Gerät ein schwarzer Spiegel, der die Bewegungen präziser erfasste
als ein Schatten. Von meinem Zimmer wollte ich nichts wissen, auch
nichts von den Telerins, die wir Figur für Figur mit großen
Taschen- und Halstüchern zugedeckt hatten.
Wir
sollten sie abhängen, sagte Mamá.
Nein,
sie sollten nur nicht schauen, sagte ich.
Eine
Geisterfamilie, der Größe nach aufgehängt an der cremefarbenen
Wand eines Kinderzimmers, eines verlassenen Kinderzimmers in einem
Landhaus mit spitzem Dach, in einem Mittelschichtviertel, in dem die
Grundstücke hinter den Häusern mit den alten, weit entfernten
Bäumen des nächsten Gebäudes verschmelzen, dunkle und verlorene
Grundstücke in einem westlichen Randbezirk von Buenos Aires. Ich
hatte die Übertragung eines Mannes im Fernsehen gesehen, der in
einer anderen Welt umherlief, eines Mannes, der die ersten Schritte
auf dem Mond tat. Eines Mannes, der immer noch ein Mann war, selbst
an einem Ort, der nicht die Erde war.
In
der Nacht, die auf jene Nacht folgte, machte ich vielleicht zum
ersten Mal die Erfahrung von Schlaflosigkeit. Jene Nacht bietet
jedenfalls die Möglichkeit einer Erinnerung. Gut möglich, dass es
nicht wirklich die erste Nacht war, aber es ist die Nacht, die ich
nicht vergesse. Die Telerins mit
ihren schwarzen Pupillen auf weißem Grund oder der große Fernseher
als schwarzer Spiegel in der Nacht müssen in all den Nächten die
einzigen, unwirklichen Zeugen all dessen gewesen sein, was ich
vergessen habe.
Stumme
Zeugen, wie der erstickte Schrei in der Nacht des Lichtblitzes, als
das Leuchten immer intensiver wurde und mit einem Mal den ganzen Raum
einnahm bis es all seine Formen verschlang und ihm Wände, Bett,
Fenstersims, Gegenstände nahm und mich mit etwas konfrontierte, das
ich immer noch nicht näher benennen kann, und das sich langsam auf
mich zu bewegte und immer größer wurde, solange das Leuchten
anhielt, und das immer dunkler wurde, ohne Augen, ohne Stimme, ohne
Hände.
Die
Schlaflosigkeit dieses Mädchens, das mir mit vier Jahren
abhandengekommen ist, ist der Schlaflosigkeit der Frau, der
Erwachsenen, die in der heutigen Regennacht schreibt, nicht
unähnlich; denn obwohl sie sich nicht erkennen, lebt das Mädchen
doch weiter, abhandengekommen, stumm, gefangen in dem tiefschwarzen
Zwischenraum, der sich zwischen den Gestirnen ausbreitet, ganz
wachsam gegenüber dem, was sich da nähert, wie um sie zu holen, sie
mitzunehmen, ihr in einer Sprache aus einer anderen Welt ein
Geheimnis ins Ohr zu flüstern: eine ganz private Nachricht, ganz
leise geflüstert, damit die anderen, die friedlich schlafen oder
komplizierte Träume von der anderen Seite der Geschichte träumen,
nicht aufwachen.
Das Schwarz um die Astronauten herum, das Gesicht des Mädchens,
aufmerksam und neugierig, wie es sich im Fernseher spiegelt, die
Augen und Münder anderer, die sich im Mond widerspiegeln, in der
unermesslichen Weite eines dunklen Himmels, schwarz und weiß wie
versilbert, eine Kulisse, die noch dichter ist als die Baumallee bei
Nacht.
In der Dunkelheit hat das Mädchen aus dem Blickwinkel noch andere
Augen gesehen: meine, die nichts anderes als ihre sind, die sie
betrachten von einem im Fernsehen übertragenen Mond aus, wie aus
einem dunklen, fast schwarzen Spiegel heraus; und als das Mädchen
das Schwarz des Bildschirms betrachtet, weiß sie nicht wie, wie sehr
und wann sie selbst betrachtet wird.
Die
Angst aber hat auch etwas Trauriges, denn mit diesem Mond, den sie
jetzt aus so großer Entfernung sehen, mit diesem Mond, der so
unmöglich mitten ins Wohnzimmer platziert wurde und der so weit
entfernt ist von diesem anderen Mond mit der Wasseraura oben im
Himmel, mit diesem neuen, seltsamen Mond verschwand der zusammen mit
dem Vater mit neugierigem, ins Unendliche gerichtete Blick
betrachtete Mond; das war nicht mehr der Mond, den das Teleskop näher
herangerückt hatte und der nicht zuließ, dass man wirklich etwas
sah; er gab keine Details preis, keine Gewissheiten, denn mit dem
Vater zusammen den Mond zu betrachten, das hieß, das Geheimnis des
Mondes zu schätzen und zu bewahren; jetzt aber, mit diesen Augen, in
die sich Raumanzüge mischen, auf diesem heidnischen Mond, sieht das
Mädchen Schatten, Asche, Schamhaftes, Spuren, Flaggen, Pizza essende
Onkel, verhüllte Männer ohne Augen und Münder. Auch diese ihr so
sehr zu eigenen Augen sieht sie, die die Dunkelheit und Traurigkeit
herausgerissen haben – denn diese mir so sehr zu eigenen Augen
blieben die des Mädchens, des abhanden gekommenen Mädchens, das
auch mich ansieht, erschreckt, als wäre ich eine andere.
Am
nächsten Tag stahl Carlitos den Deckel der Pizzaschachtel aus
unserem Müllsack, den Deckel der Pizza, die wir ein paar Tage zuvor
gegessen hatte; eklig war der Deckel, nicht einmal abgewaschen hat er
ihn; schmierige Käsereste hingen daran, irgendetwas undefinierbares
Dickes, Matschiges; was einmal so gut eine so gute Pizza geschützt
hat, war jetzt eine Dreckschleuder, die die Luft mit Dreck, Käse,
Fäden und Pfützenwasser verschmutzte; Carlitos warf den Deckel
durch die Luft und machte aus ihm eine fliegende Untertasse, die ein
Tempo entwickelte, das einem den Atem stocken ließ und einen zwang,
sich in Windeseile wegzuducken. Von der Mitte des Blocks aus, wo mein
Haus an seines grenzte, wirft Carlitos geschickt das dreckige, runde,
Hals und Gesicht bedrohende Ding, anmutig fliegt es bis zur Ecke,
knallt gegen die Fensterscheibe des Ladens und Carlitos kreischt:
Hey, Betty, das kommt vom Saturn, vom Saturn kommt das, Betty!
Und
Betty kam aus dem Laden, es dauerte solange, wie es eben dauerte, bis
sie von der Fußbank gestiegen war, als ob sie hinkte, und hinter dem
Vorhang aus braunen, gelben und grünen Plastikstreifen auftauchte,
stückweise tauchte sie auf, zuerst die dicke Hand, dann der Fuß mit
dem flüchtigen Zeh und ganz am Schluss das breite, großaugige, von
einer mehrfarbigen, langen Mähne umrahmte Gesicht.
Ach
wirklich, vom Saturn also ...?,
und
sie sah mich dabei an, mich, nicht ihn, den dreckigen Carlitos, den
Sohn der Hühnermörderin.
Na
gut, Mädchen, dann weißt du also, woher sie kommen; nur was man nie
weiß, ist, wohin sie gehen.
Und
wieder verzog sie den Mund, rümpfte sie die Nase, sah mich an und
ignorierte Carlitos so konsequent, als würde er gar nicht
existieren, als wäre er unsichtbar für sie und nur für mich nicht
aus Luft.
Wo
sie hingehen? Diese beängstigende Vorstellung war mir gar nicht
gekommen, und auch wenn es schrecklich war, dass Betty vom Saturn
stammte, so war der Saturn doch zumindest ein Name, auf den ich am
Himmel zeigen konnte, im Mai, Richtung Norden, und nicht nur das, er
war etwas, das ich mit dem Teleskop ausfindig machen konnte, mit
seinen komischen Ringen, himmlischen Lichtquellen, er war etwas, das
mich meinem Vater wirklich näherbrachte und das in diesem intimen,
einzigartigen Moment auf perfekte Weise das Tor zur Einsamkeit des
Himmels und der Sterne öffnete; so erwuchs in mir, während ich mich
durch das Teleskop mit dem Ende der Welt vertraut machte, eine frühe
Form von Exil, und in solchen Momenten vergaß ich, dass ich noch ein
kleines Mädchen war:
Ich
pures Auge,
Ich
Planet;
Ich
Mond
Ich
Schwarz
Ich
Saturn
Ich
Betty.
Betty,
das wusste ich, war aus mir entstanden, war eines Nachts aus mir
herausgekommen, in einer Nacht ohne Erinnerungen, einer Nacht ohne
Augen; ich Mond, ich Saturn, ich Betty mein Zeh auf der Flucht.
Also
lief ich, noch ohne Großmutter, nach Hause, ließ Carlitos stehen,
und stellte mich auf ein Fußbänkchen, als ob ich hinkte, um den
Badezimmerspiegel zu erreichen und mir ins Gesicht zu sehen und zu
sehen, wer ich war: ob ich, ob Saturn, Betty, oder was auch immer
Gesichtsloses.
Das Gefühl von Verlassenheit,
nicht zu wissen, wer man ist, hat etwas Tiefschwarzes, etwas
Schwarzes wie die tiefe Dichte, die sich zwischen den Gestirnen
auftut. Und deshalb wird zwischen dem Leuchtenden und dem Leuchtenden
in dem tiefen Zwischenraum geboren, was keinen Namen hat, das
Schwarze, dieser Ort, zu dem, wie ich vermutete, die hingehen würden,
die mich holen kamen; damals wusste ich noch nicht – und heute
vergesse ich es manchmal – dass ich selbst es bin, die immer wieder
aus dem tiefsten Schwarz heraus kam, kommt und wiederkommt, um mich
zu holen und mich mitzunehmen, wohin auch immer.
**
Aus
dem Buch:
La sombra del animal von Vanesa Guerra. Verlag Bajo La
Luna, 2008, Buenos Aires, Argentinien. Primer Premio Libro de
Cuentos por el Fondo Nacional de Las Artes (Erster Preis in der
Kategorie Erzählung des argentinischen Kunst- und Kulturfonds),
Argentinien, 2007. Seiten. 85-94.
No hay comentarios:
Publicar un comentario